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von Kathrin » 10.11.2010, 20:16
Der Storch als Vorbild für die Fliegekunst
Otto Lilienthal (1848 - 1896), deutscher Pionier der Luftfahrt, schrieb in "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst":
"Alljährlich, wenn der Frühling kommt und die Luft sich wieder bevölkert mit unzähligen frohen Geschöpfen, wenn die Störche zu ihren alten nordischen
Wohnsitzen zurückgekehrt, ihren stattlichen Flugapparat, der sie schon viele Tausende von Meilen weit getragen, zusammenfalten, den Kopf auf den Rücken legen und durch ein Freudengeklapper ihre Ankunft anzeigen... dann ergreift auch den Menschen eine gewisse Sehnsucht, sich hinaufzuschwingen, und frei wie der Vogel über lachende Gefilde, schattige Wälder und spiegelnde Seen dahinzugleiten und die Landschaft so voll und ganz zu genießen, wie es sonst nur der Vogel vermag. Wer hätte wenigstens um diese Zeit niemals bedauert, daß der Mensch bis jetzt der Kunst des freien Fliegens entbehren muß und nicht auchwie der Vogel wirkungsvoll seine Schwingen entfalten kann, um seiner Wanderlust den höchsten Ausdruck zu verleihen?
Sollen wir denn diese Kunst immer noch nicht die unsere nennen und nur begeistert aufschauen zu niederenWesen, die dort oben im blauen Äther ihre schönenKreise ziehen?
Die Beobachtung der Natur ist es, welche immer und immer wieder dem Gedanken Nahrung giebt. Es kann und darf die Fliegerkunst nicht für ewig dem Menschen versagt sein" ...
Otto Lilienthal und sein Bruder Gustav hegten schon in frühesterJugend den Wunsch zu fliegen. Mit 13 und 14 Jahren starteten sie die ersten Flugversuche, wobei der Storch in ihren Überlegungen und Versuchen eine bedeutende Rolle spielte.
"Wir können dieses Thema nun nicht verlassen, ohne noch einmal auf einen Vogel zurückzukommen, welcher gleichsam zum Fliegervorbilde für den Menschen geschaffen zu sein scheint, welcher als einer der größten Vögel unseres Erdteiles auch alle Künste des Fliegens versteht, ein Vogel, den wir in seinem Naturzustande in der vollen Freiheit seiner Bewegungen beobachten können, wie keinen anderen.
Ich meine den Storch, der alljährlich in unsere Ebenen aus seiner, tief im Innern Afrikas gelegenen, zweiten Heimat zurückkehrt, der auf unseren Häusern geboren wird, auf
unseren Dächern seine Jugendtage verlebt und über unseren Häuptern von seinen Eltern im Fliegen unterrichtet wird.
Fast möchte man dem Eindrucke Raum geben, als sei der Storch eigens dazu geschaffen, um in uns Menschen die Sehnsucht zu Fliegen anzuregen und uns als Lehrmeister in dieser Kunst zu dienen; fast hört man's, als rief er die Mahnung uns zu:
O, sieh', welche Wonne hier oben uns blüht,
wenn kreisend wir schweben im blauen Zenith,
und unter uns dehnt sich gebreitet
die herrliche, sonnenbeschienene Welt,
umspannt vom erhabenen Himmelsgezelt,
an dem nur Dein Blick uns begleitet!
Uns trägt das Gefieder; gehoben vom Wind
die breiten, gewölbten Fittige sind;
Der Flug macht uns keine Beschwerde;
Kein Flügelschlag stört die erhabene Ruh'.
O, Mensch, dort im Staube, wann fliegest auch Du?
Wann löst sich Dein Fuß von der Erde?
Und senkt sich der Abend, und ruhet die Luft,
dann steigen wir nieder im goldigen Duft,
verlassen die einsame Höhe.
Dann trägt uns der Flügelschlag ruhig und leicht
dem Dorfe zu, ehe die Sonne erweicht;
dann suchen wir auf Deine Nähe.
So siehst Du im niederigen Fluge uns ziehn
im Abendrot über die Gärten dahin.
Zum Neste kehren wir wieder.
Auf heimischem Dache dann schlummern wir ein,
und träumen von Wind und von Sonnenschein,
und ruh'n die befiederten Glieder.
Doch treibt Dich die Sehnsucht, im Fluge uns gleich
dahinzuschweben im Lüftebereich
die Wonnen des Flug's zu genießen,
so sieh' unsern Flügelbau, miß unsre Kraft,
uns such' aus dem Luftdruck, der Hebung uns schafft,
auf Wirkung der Flügel zu schließen.
Dann forsche, was und zu tragen vermag
bei unserer Fittige mäßigem Schlag,
bei Ausdauer unseres Zuges!
Was uns eine gütige Schöpfung verlieh'n,
draus mögest Du richtige Schlüsse dann zieh'n,
und lösen die Rätsel des Fluges
Die Macht des Verstandes, o wend' sie nur an,
es darf Dich nicht hindern ein ewiger Bann,
sie wird auch im Fluge Dich tragen!
Es kann Deines Schöpfers Wille nicht sein,
Dich, Ersten der Schöpfung, dem Staube zu weih'n,
Dir ewig den Fluf zu versagen!
Otto Lilienthal (1848 - 1896)
Gruß
Kathrin